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«Die Bildung hat einen grossen Schritt nach vorne gemacht»
Jedes Jahr absolvieren zehntausende Berufsleute spezifische Diplomlehrgänge oder erwerben eidgenössisch anerkannte Fachausweise, um im Arbeitsmarkt am Ball zu bleiben. Iren Brennwald, Fachverantwortliche Bildung beim Kaufmännischen Verband Schweiz, über die Veränderungen in der höheren Berufsbildung und die Auswirkungen des Strukturwandels.
Das KV gilt als die Grundausbildung schlechthin. Können Sie einige Beispiele nennen, welche berufliche Laufbahnen mit einer kaufmännischen Ausbildung möglich sind?
Diese sind tatsächlich sehr vielfältig. KV-Absolvent:innen sind später in der Wirtschaft oder in der Informatik, im Personalwesen oder im Office Management tätig. Auch Treuhand, Finanz- und Rechnungswesen sind Bereiche, in denen man nach dem KV Fuss fassen kann.
Welche Weiterbildungen sind in den letzten Jahren dazugekommen, die neue Berufe «erschliessen»?
Das ist zum einen der eidgenössische Fachausweis Digital Collaboration Specialist, DCS, und zum anderen dipl. Rechtfachfrau beziehungsweise -mann HF. Digital Collaboration Specialists sind spezialisiert auf die Umsetzung von technologiebasierten Strategien, helfen bei der digitalen Transformation und sorgen dafür, dass die Mitarbeitenden ihrer Organisation die digitale Reife erreichen. Die Berufsprüfung wurde 2023 zum ersten Mal durchgeführt.
Wo setzt der neue Diplomlehrgang zum Recht an?
Die Teilnehmenden erwerben in drei Jahren berufsbegleitend Kenntnisse auf den wichtigsten Rechtsgebieten auf Basis von Handlungskompetenzen. Sie verstehen das juristische Denken, erlernen eine juristische Arbeitsweise und verknüpfen ihr Wissen dank Fallbeispielen mit der Praxis. Dies ist zum Beispiel für Menschen aus dem Treuhandwesen sehr interessant, da sie oft die Buchhaltung für Unternehmen machen, bei denen personal- oder wirtschaftsrechtliche Fragen auftauchen. Die Weiterbildung ist aber auch für andere Berufsgruppen, die eine grosse Schnittmenge mit Jura haben, interessant. Rechtsfachleute HF arbeiten in kleineren und mittleren Unternehmen, bei Polizeikorps, in Untersuchungsrichterämtern, bei Staatsanwaltschaften, Bankinstituten, Versicherungs- und Treuhandgesellschaften, in Anwaltskanzleien oder in verschiedenen Verwaltungszweigen wie Steuer- und Bauverwaltungen. Sie sind auch in Strassenverkehrs- beziehungsweise Migrationsämtern sowie in Sozial- und Vormundschaftsämtern anzutreffen. Sie bearbeiten Rechtsfälle, treten aber nicht vor Gericht auf.
«Digital Collaboration Specialists helfen bei der digitalen Transformation und sorgen dafür, dass auch die Mitarbeitenden einer Organisation die digitale Reife erreichen.»Iren Brennwald, Fachverantwortliche Berufsbildung
Welche Berufsbilder haben sich jüngst besonders gewandelt?
2023 gab es grössere Reformen in zwei Berufsbildern: Executive Assistant – auch bekannt als Direktionsassistent:in – sowie im Rechnungswesen und Controlling.
Was hat sich da konkret verändert?
Aktuell liegt der Fokus auf Handlungskompetenzen. Es wird weniger Wissen an sich abgefragt, sondern darauf hingearbeitet, dass die Berufsleute in der Praxis handlungsfähig sind. Weiter möchte man auch in der Bildung die digitale und vernetzte Arbeitswelt abbilden sowie Selbstmanagement- und Führungskompetenzen stärken. Dies geschieht unter anderem an den Prüfungen, aber auch während der Ausbildung. Executive Assistants haben neu ein persönliches Portfolio, in dem sie Massnahmen respektive Strategien zum Selbstmanagement und zur persönlichen Entwicklung beschreiben. Sie lösen auch eine Fallarbeit zum Führen von Mitarbeitenden. Die höhere Fachprüfung im Rechnungswesen und Controlling enthält neu Datenmanagement als fixen Bestandteil.
Welche Auswirkungen haben diese Anpassungen auf die Berufsbildung?
Bildungsanbieter:innen müssen sich auf veränderte Prüfungsdesigns einstellen und ihren Unterricht entsprechend anpassen.
Die Digitalisierung hat den Takt in der Wirtschaft erhöht. Kommt die Aus- und Weiterbildung da immer mit?
Wenn man einen eidgenössischen Abschluss reformiert, braucht es Berufsfeldanalysen und Projektgruppen mit viel Praxiserfahrung, die die entsprechenden Prüfungssettings auf Aktualität hin überprüfen. Auch die Bildungsanbieter:innen müssen ihr Angebot überarbeiten – Lehrgänge haben teils eine lange Vorbereitungszeit auf eine eidgenössische Prüfung. Es wäre nicht realistisch und auch nicht sinnvoll, Prüfungssettings alle zwei, drei Jahre umfassend umpflügen zu wollen. Aber natürlich bewegen wir uns da in einem Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Aktualität.
«Die Bildungsinstitutionen haben sich verändert und wandeln sich weiter. Sie fördern die Zusammenarbeit im Team und über Disziplinen hinweg.»Iren Brennwald
Wie lehrt man solch grosse und komplexe Themen wie Digitalisierung?
Eine aktuelle HWZ-Studie zeigt, dass der Lernformenmix wichtig ist. Die Bildungsinstitutionen haben sich verändert und wandeln sich weiter. Sie fördern die Zusammenarbeit im Team und über Disziplinen hinweg. Zudem erhalten Führungs-, Selbst- und Sozialkompetenzen mehr Gewicht. Das Vor- und Nachmachen, wie man es früher oft mit Lernen verbunden hat, ist weitgehend vorbei.
Sie haben es bereits erwähnt: Weichere Skills wie Konfliktmanagement oder Selbsteinschätzung werden im Arbeitsmarkt immer wichtiger. Inwiefern stellt sich die höhere Berufsbildung auf diesen Trend ein?
Da ist die Berufsprüfung der Executive Assistants ein gutes Beispiel: Das persönliche Portfolio fördert vorbereitend auf die Prüfung die Auseinandersetzung mit den eigenen Ressourcen und der persönlichen Weiterentwicklung. Die Prüfungsteilnehmenden führen auch ein Dossier zum Kompetenzstatus. Da erfolgt eine Selbst- und eine Fremdbeurteilung, die sie im Anschluss reflektieren und analysieren. An der mündlichen Prüfung präsentieren sie das Dossier in der Fremdsprache und spiegeln es im Fachgespräch.
Lebenslanges Lernen gilt als Schlüssel für eine erfolgreiche und erfüllende Karriere. Was raten Sie Arbeitnehmenden, damit sie es gezielt und strukturiert angehen – und die Freude am Lernen erhalten können?
Motivation ist für eine Aus- oder Weiterbildung der Schlüsselfaktor. Es fällt uns allen viel leichter, durch eine Baisse zu kommen, wenn wir motiviert sind und wissen, wofür wir etwas lernen. Darüber hinaus empfehle ich eine gute Planung, um Bildung, Beruf und Privatleben gleichermassen in den Alltag integrieren zu können. Es ist, vielleicht auch je nach Lebenslage, sinnvoller, länger an einer Ausbildung dranzubleiben und dafür noch Zeit für Betreuungsarbeit oder Hobbys zu haben, als in möglichst hohem Tempo vorwärtszukommen. Dies ist aber auch abhängig von der Lebenslage und Bedürfnissen der jeweiligen Person. Besonders wichtig ist es, die Qualitätsmerkmale der Weiterbildungsangebote und -anbieter zu überprüfen. In dieser Hinsicht ist man mit dem Abschluss eines eidgenössisch anerkannten Abschlusses auf der sicheren Seite.
Welche Vorteile bringen Mitarbeitende mit, die sich stetig weiterentwickeln?
Sie sind laut Studien innovativer und produktiver. Sie sind auch flexibler einsetzbar, weil sie Kompetenzen über mehrere Disziplinen hinweg mitbringen. Das ist sehr wertvoll. Darüber hinaus sehe ich in agilen, sich entwickelnden Berufsleuten einen hohen Wert für unsere Gesellschaft: Wer veränderungsbereit und neugierig ist, kann die Zukunft aktiver mitgestalten. Nicht zuletzt fördert diese Haltung unsere persönliche Entwicklung. Ich bin selbstwirksam, wenn ich merke, dass ich mein Leben in der Hand habe und in meinem Job etwas bewirken kann.
Welchen Stellenwert hat die höhere Berufsbildung in der Schweiz? Verändert sich dieser vor dem Hintergrund steigender Maturitätsquoten und einer Akademisierung der Gesellschaft?
Sie hat seit jeher einen hohen Stellenwert. Rund 28 000 Personen pro Jahr machen einen Abschluss im Bereich der höheren Berufsbildung. Mit dem zunehmenden Arbeitskräftemangel dürfte die Nachfrage nach praxisnahem, vertieftem Fachwissen steigen. Die Studie der HWZ zeigt auch, dass kaufmännisch-betriebswirtschaftliche Kompetenzen an Bedeutung gewinnen. Sie sind vielfältig anwendbar und gerade in Bezug auf die Digitalisierung und Automatisierung – wo Kreativität, analytisches Denken sowie Entscheidungs- oder Problemlösefähigkeiten wichtig sind – sehr gefragt. Während der Vorbereitung auf eine eidgenössische Prüfung kann man diese Qualifikationen im Bereich der Unternehmensführung «on the job» erlangen und gleichzeitig im Erwerbsleben verbleiben. In diesem Hinblick hat die höhere Berufsbildung weiterhin einen hohen Stellenwert.
Welche Weichenstellungen braucht das Schweizer Bildungssystem, um für die Zukunft gerüstet zu sein?
Die immer weitergreifende Digitalisierung, Tertiärisierung und eine kürzere Halbwertszeit des Wissens zeichnen den Strukturwandel innerhalb der Wirtschaftssektoren aus. Diese Entwicklungen in Richtung Dienstleistungsgesellschaft führen zu neuen Berufsbildern und Beschäftigungsverhältnissen und erfordern neue Lern- und Arbeitsformen. Das Bildungssystem muss auf die neuen Bedürfnisse reagieren und grundsätzlich agiler wie auch flexibler werden. Dafür braucht es ein breites Angebot, vielfältige Akteure sowie die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, welche dies ermöglichen. Dafür setzt sich der Kaufmännische Verband Schweiz auch aktiv ein.
Erstmals veröffentlicht am: 8.1.2024
Autor:in: Rahel Lüond
«Ich sehe in agilen, sich entwickelnden Berufsleuten einen hohen Wert für unsere Gesellschaft: Wer veränderungsbereit und neugierig ist, kann die Zukunft aktiver mitgestalten.»Iren Brennwald