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«Bis zum Abschluss eines GAV geschieht viel hinter den Kulissen»
Die Sozialpartnerschaft mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen spielt eine zentrale Rolle für die soziale Sicherheit in der Schweiz. Mit Gesamtarbeitsverträgen (GAV) fördern die Sozialpartner zudem faire Anstellungsbedingungen und schaffen die Grundlage für moderne Branchenlösungen am sich verändernden Arbeitsmarkt.
Seit der Gründung des Bundesstaats prägten unterschiedliche Akteur:innen die Geschichte der Sozialpolitik in der Schweiz. Ab Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich Gewerkschaften für den Schutz ihrer Mitglieder ein, und eine massgebliche Rolle spielen seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Sozialpartnerschaften, welche Vertreter:innen von Angestellten und Unternehmen an einen Tisch bringen, um sozialverträgliche Arbeitsbedingungen auszuhandeln.
Sozialpartnerschaft bringt Angestellte und Unternehmen zusammen
Die Sozialpartnerschaft im Besonderen wurde 1911 im Gesetz verankert und erlebte mit dem Friedensabkommen von 1937 ihren ersten Aufschwung in der Maschinenindustrie. Hannes Elmer, Fachverantwortlicher Sozialpartnerschaft beim Kaufmännischen Verband Schweiz, erläutert: «Die soziale Sicherheit in der Schweiz konnte durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen gestärkt und ausgebaut werden. Insbesondere wurden bei den Arbeitsbedingungen grosse Errungenschaften erzielt, welche ohne Sozialpartnerschaft nicht möglich gewesen wären. Hierbei sind besonders die Mindestlöhne, kürzere Arbeitszeiten, die Erweiterung des Kündigungsschutzes sowie der Arbeitsfrieden zu nennen.» Dadurch leistet die Sozialpartnerschaft einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen, politischen und sozialen Stabilität in der Schweiz und stärkt das Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmenden.
Auf die Branche abgestimmte Regelungen
Bei der Sozialpartnerschaft gilt das Grundprinzip «Vertrag vor Gesetz»: Sie regelt diejenigen Bedingungen, die über das gesetzliche Minimum hinausgehen. Die Parteien profitieren dabei von individuellen, auf die Branche abgestimmten Regelungen und können auf neue Bedürfnisse und Entwicklungen in der Arbeitswelt rascher reagieren – etwa in Bezug auf Ferien, Weiterbildungen oder Elternzeit.
Der Arbeitgeberdialog ist heute ein fester Bestandteil der Schweizer Wirtschaft. Er trägt massgeblich zur Sicherung des Arbeitsfriedens und der Verhinderung von Streiks bei. Dank der Sozialpartnerschaften können Konflikte auf dem Verhandlungsweg geregelt werden. Das war in der Geschichte der Sozialpolitik nicht immer so (vgl. Box «Ein Blick auf die Geschichte des Sozialstaates Schweiz»): Lange Zeit war die soziale Sicherheit fragmentiert und hauptsächlich von privaten Akteuren geprägt.
- Die Schweizerische Bundesverfassung hält fest, dass der Staat die gemeinsame Wohlfahrt fördert und jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat (Art. 2 und 41 BV). Darüber hinaus hat die Sozialpolitik zum Ziel, die Bürger:innen gegen Arbeitslosigkeit abzusichern und sie bei Armut, Krankheit, Behinderung oder Unfällen zu unterstützen.
Rechtssicherheit für Mitarbeitende
Sozialpartnerschaften schaffen Rechtssicherheit und Transparenz für Mitarbeitende, die sich auf Arbeitnehmerseite in Form von Angestelltenverbänden, Gewerkschaften, Personal- oder Mitarbeiterkommissionen zusammenschliessen und so gemeinsam ihre Interessen vertreten können. Diese Arbeitnehmervertretungen fungieren als Vermittler und Bindeglied zwischen Mitarbeitenden, der Geschäftsleitung und externen Sozialpartnern.
Die Regelungen werden in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) festgehalten. Ein GAV regelt die Arbeitsbedingungen für ein Unternehmen, eine Branche, meist regional oder sogar schweizweit. In der Schweiz sind rund 2.1 Millionen Erwerbstätige einem GAV unterstellt.
Gesteigerte Branchenattraktivität durch GAV
Für Arbeitgeber:innen wiederum bietet ein GAV Sicherheit und ermöglicht ein zielgerichtetes Handeln. Mit einem GAV werden faire Arbeitsbedingungen geschaffen und Dumpinglöhne verhindert. Und Arbeitgeber:innen können über einen fortschrittlichen GAV die Attraktivität ihres Unternehmens und ihrer Branche steigern – ein wichtiges Kriterium in Zeiten des Fachkräftemangels. Ein Beispiel ist der Landes-Gesamtarbeitsvertrag (L-GAV) für die Migros Gruppe, der seit 2023 den Vaterschaftsurlaub von drei auf vier Wochen erhöht hat und es ermöglicht, dass von 18 Wochen Mutterschaftsurlaub die letzten vier Wochen vom Partner oder der Partnerin bezogen werden können – sogar wenn diese nicht bei der Migros arbeiten.
Hannes Elmer unterstreicht: «Ein GAV ist viel flexibler als die Gesetzgebung. Dadurch können schneller innovative Lösungen für neue Herausforderungen entwickelt und implementiert werden, die im Interesse aller Beteiligten sind.» GAV schliessen die Lücken für eine sozialverträgliche Anstellung in Bezug auf das Gesetz, welches punkto Arbeitnehmerschutz und Arbeitsbedingungen allgemein gehalten ist, und ermöglichen spezifische Regelungen für bestimmte Branchen.
Verband vertritt Arbeitnehmende als Vertragspartner
«Durch den Dialog zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgeber:innen können Projekte angegangen werden, die für eine ganze Branche von Bedeutung sind», erklärt Hannes Elmer weiter. Der Kaufmännische Verband Schweiz setzt sich aktiv für diesen Dialog ein. Er ist derzeit Vertragspartner bei 20 nationalen und 18 regionalen GAV und vertritt die Interessen von tausenden von Arbeitnehmenden. Neben dem Aushandeln der Verträge kommt dem Verband als Sozialpartner auch eine überwachende Funktion zu: Er prüft den Vollzug der Verträge und interveniert bei Verstössen gegen die Vereinbarungen.
Flexible Arbeitsmodelle und Vereinbarkeit von Beruf und Familie
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Verband besonders für Mindestlöhne in Tieflohnbranchen, flexible Arbeitsmodelle und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie engagiert – mit Erfolg: Die Mindestlöhne im Detailhandel wurden kontinuierlich gesteigert, im Luftverkehr konnten trotz einer schwierigen Ausganslage Verträge abgeschlossen und beim Mutter- und Vaterschaftsurlaub grosse Fortschritte gemacht werden.
Der Verband unterstützt zudem GAV-unterstellte Mitarbeitende bei Fragen zum Arbeitsrecht oder zu ihren Anstellungsbedingungen. Brennende Themen sind aktuell die jährlichen Lohnverhandlungen sowie die Teuerung und die Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf. Im Falle von Restrukturierungen und Stellenabbau setzt sich der Verband für gute Sozialpläne ein, um die betroffenen Angestellten vor wirtschaftlichen und sozialen Notlagen zu schützen. Im Detailhandel ist der Kaufmännische Verband schweizweit der einzige Verband, der mit den grössten Food- und Convenience-Händlern eine Sozialpartnerschaft pflegt.
«Ein GAV ist viel flexibler als die Gesetzgebung. Dadurch können schneller innovative Lösungen für neue Herausforderungen entwickelt und implementiert werden, die im Interesse aller Beteiligten sind.»Hannes Elmer, Fachverantwortlicher Sozialpartnerschaft
Ein Blick auf die Geschichte des Sozialstaates Schweiz
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Mit der zunehmenden Industrialisierung wuchs die Schweizer Bevölkerung zwischen der Gründung des Bundesstaates 1848 und der Jahrhundertwende von 2.4 auf 3.3 Millionen. Gleichzeitig gerieten viele Menschen in soziale Notlagen. In dieser Zeit galt Armut meist als selbstverschuldet, und strukturelle Ursachen wurden ausgeblendet. Betroffen waren vor allem die Landbevölkerung und die Fabrikarbeiter. Diese Arbeiterfamilien arbeiteten 15 Stunden täglich und kannten keinen Kündigungsschutz oder Schutz gegen Unfall und Krankheit. Kinderarbeit war die Norm, und Krankheiten und Alkoholismus waren weit verbreitet.
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Es bildeten sich Hilfskassen, die ihren Mitgliedern gegen eine Prämie eine Absicherung gegen die Folgen von Krankheit und Unfall anboten – die Vorläufer der heutigen Sozialversicherungen. Die ersten Arbeiterschutzgesetze entstanden als Antwort auf die Massenarmut, die als Folge grassierte. Mit dem Fabrikgesetz von 1877 erliess der Staat Richtlinien zum Schutz der Arbeiter, begrenzte die Arbeitszeit und machte Vorschriften über ein Mindestalter für Kinderarbeit.
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1890 wurde die Verfassungsgrundlage für Sozialstaatsgesetze geschaffen. Der Bund erhielt die Kompetenz für die Einrichtung der obligatorischen Unfall- und Krankenversicherung. Leistungen wurden fortan nicht mehr vom Bedarf abhängig gemacht, sondern per Recht garantiert und automatisch gewährt.
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Zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg entstanden grössere sozialpolitische Programme. Die Pläne stiessen jedoch auf politische Widerstände, und die soziale Sicherheit blieb fragmentiert und von privaten Akteuren geprägt. 1913 wurde das Bundesamt für Sozialversicherung BSV gegründet, welches fortan den Ausbau des Sozialstaates koordinierte. Es folgte die Unfallversicherung 1918 (Suva), der Erwerbsausfall für Militärangehörige, und der Bund förderte Krankenkassen, Pensionskassen und Arbeitslosenkassen. Erst der Landesstreik von 1918 als Reaktion auf die steigenden Preise, mangelnde Vorsorge und Nahrungsmittelknappheit nach dem ersten Weltkrieg schaffte die Grundlage für weitere soziale Reformen. Doch erst in der Nachkriegszeit wurde der Sozialstaat zunehmend ausgebaut: 1948 mit der Gründung der AHV, 1960 folgte die Invalidenversicherung IV und die Arbeitslosenversicherung 1984. Im Jahr 1985 wurde in der Altersversicherung das Obligatorium für die die berufliche Vorsorge eingeführt und damit das Drei-Säulen-Prinzip verankert.
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Seit den 1990er-Jahren ist die Sozialpolitik in der Schweiz von Reformbemühungen geprägt, die den verändernden demografischen Bedingungen Rechnung tragen müssen. Die steigende Lebenserwartung, der fehlende Nachwuchs und die sinkenden Anlagerenditen führen zu grossen Lücken in der Altersvorsorge. Dafür braucht es nachhaltige und langfristige Lösungen.
Ein langer Weg: Vom Anliegen bis zum Vertrag
Bis es jedoch zu Verträgen und Abschlüssen kommt, geschieht viel Arbeit hinter den Kulissen – das weiss Nicole de Cerjat, Juristin und Fachverantwortliche Sozialpartnerschaft : «Die Sozialpartnerschaft beginnt bei informellen Gesprächen. In dieser Form von Austausch erfahren wir viel über die Anliegen und Sorgen der Arbeitnehmenden – und dies bereitet den Boden für spätere Verhandlungen.» Ein gutes Beispiel dafür sei der Vaterschaftsurlaub, zeigt Nicole de Cerjat auf: «Jahrelang haben wir mit allen Parteien darüber gesprochen. Wir konnten Impulse geben, Überlegungen anstossen.» Die Meinungsbildung brauchte Zeit; dann wurde das Thema Vaterschaftsurlaub in die GAV-Verhandlungen eingebracht und es konnten erste Regelungen abgeschlossen werden. Nach der angenommenen Volksabstimmung 2020 und dem in Kraft treten des Gesetzes 2021, gab es bei vielen Verhandlungen nochmals bessere Bedingungen für werdende Väter.
Regelung von Weiterbildungsmöglichkeiten
Viele GAV gehen über die Regelung von Arbeitsbedingungen hinaus und beinhalten Vorgaben zu Weiterbildungs- und Schulungsmöglichkeiten. So bietet der Kaufmännische Verband zusammen mit den Sozialpartnern der Bankenbranche mit der Plattform skillaware allen Bankangestellten die Möglichkeit, sich laufend weiterzubilden und dadurch ihre Arbeitsmarktfähigkeit zuerhalten und zu steigern. Dazu gehört auch eine Gesundheitsbefragung für alle Mitarbeitenden, die auf die Arbeitszeiterfassung verzichten, sowie die sozialpartnerschaftliche Lohngleichheitsanalyse.
Im GAV mit dem Detailhändler Lidl Schweiz ist zum Beispiel ein Weiterbildungsfonds etabliert. Dort wird die Grundbildung voll bezahlt und Sprachkurse, MS-Office-Kurse und Unterstützung bei Nachholbildungen und sonstigen Weiterbildungen werden finanziert – wichtige Vorteile in einer Branche, die von ihren Mitarbeitenden im Gegenzug oft viel Flexibilität in Bezug auf die Arbeitszeit erwartet.
Erstmals veröffentlicht am: 13.3.2023
Autor:in Sibylle Zumstein
«Die Sozialpartnerschaft beginnt bei informellen Gesprächen. In dieser Form von Austausch erfahren wir viel über die Anliegen und Sorgen der Arbeitnehmenden – und dies bereitet den Boden für spätere Verhandlungen.»Nicole de Cerjat, Juristin und Fachverantwortliche Sozialpartnerschaft