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«Die Reform der kaufmännischen Lehre geht in die richtige Richtung»

Nach der Reform der Detailhandelslehre 2022 wurde, kaum ein Jahr später, auch die kaufmännische Lehre umfangreich reformiert. Ziel der Reform: Den Schwerpunkt auf die Handlungskompetenzen legen und die Selbstständigkeit der Lernenden fördern. Der erste Jahrgang ist im vergangenen August gestartet. Was sind die ersten Erkenntnisse auf Seiten der Lehrbetriebe? Eine Bestandesaufnahme mit Grégory Blanchard, Verantwortlicher Talent Management und Deputy Human Resources Manager bei Coop Suisse Romande.

Als Einstieg: wie viele Jugendliche haben bei Coop mit der neuen kaufmännischen Lehre begonnen?

Grégory Blanchard: Insgesamt hat Coop beinahe 400 Lernende in der Westschweiz. Neun machen eine kaufmännische Lehre, sieben davon im Rahmen der neuen Regelung.

Sie handhaben derzeit zwei verschiedene Ausbildungssysteme – eines mit Lernenden, die den Lehrplan vor der Reform absolvieren, und eines mit Lernenden, die gerade mit der reformierten Lehre begonnen haben. Welche organisatorischen Auswirkungen hat diese Reform?

Für uns stellt die Umsetzung keine besondere Schwierigkeit dar. Wir haben unsere Berufsbildner:innen bereits im Vorfeld geschult, um sie bei der Reform zu unterstützen. Ausserdem sind wir bei Coop in der glücklichen Lage, eine Lernendenbeauftragte für die Administration zu haben. Mit anderen Worten, es gibt bei uns eine Mitarbeiterin, die für den Bereich KV-Lehre zuständig ist. Sie leitet also das Ganze, hat dadurch engen Kontakt zu den Berufsbildner:innen und konnte diejenigen, die Lernende im ersten Lehrjahr haben, tatkräftig unterstützen, so dass sie für die Umstellung auf das neue System gut vorbereitet wurden. Auch wenn dies etwas mehr Arbeit für jene bedeutet, die Lernende in beiden Systemen ausbilden, verläuft die Umsetzung reibungslos.

«Es handelt sich um einen Kulturwandel, der Zeit und eine gute Begleitung erfordert.»
Grégory Blanchard

Wie wird die Reform von Ihren Berufsbildner:innen aufgenommen? Mit der Einführung des selbstgesteuerten Lernens werden sie schliesslich von «blossen Wissensvermittler:innen» zunehmend zu Coaches, welche die Lernenden in deren Lernprozessen begleiten. Das ist eine wesentliche Veränderung.

Ja, das ist ein Kulturwandel, der Zeit und eine gute Begleitung erfordert. Wir haben uns deshalb die Zeit genommen, sie zu schulen, den Ansatz dahinter zu erklären und ihnen die Bedeutung der Reform aufzuzeigen. Einige haben sich über die neue Rolle gefreut, da sie diese erfüllender und interessanter finden, während andere eher besorgt waren, ihre Gewohnheiten zu ändern. Insgesamt wird die Reform jedoch gut aufgenommen und es gab auch keinen Widerstand unter den rund zehn Berufsbildner:innen, die wir in der Westschweiz haben. Darüber hinaus steht ihnen unsere Lernendenbeauftragte stets zur Verfügung, wenn sie Zweifel oder Fragen haben. Ausserdem hat sie erst kürzlich ihren Master of Advanced Studies über selbstgesteuertes Lernen abgeschlossen. Sie ist also mit dem Thema bestens vertraut. Die Umstellung verläuft somit recht gut und wir werden unsere Berufsbildner:innen weiterhin beim Umsetzen dieses neuen pädagogischen Ansatzes begleiten.

Können Sie aus Arbeitgebersicht bereits etwas zum neuen System sagen?

Ein erster positiver Aspekt ist, dass die Reform das Zusammenspiel zwischen Schule, überbetrieblichen Kursen und Lehrbetrieb stärkt. Früher sagten unsere Lernenden oft, dass zwischen dem, was im Unterricht gelehrt wird und der Realität im Betrieb eine Diskrepanz besteht. Wir hatten auch Jugendliche, die bei der Arbeit sehr erfolgreich waren, aber Schwierigkeiten in der Schule hatten. Das ist schade, denn sie sollten von jedem der drei Lernorte, die das Besondere der Lehre ausmachen, profitieren können. Die Reform geht in diese Richtung, da sie die drei Lernorte wieder sinnvoll aufeinander abstimmt.

«Der Fokus auf die Handlungskompetenzen ist viel besser an die Arbeitswelt angepasst.»

Und was halten Sie davon, dass der Fokus nun auf der Entwicklung von Handlungskompetenzen liegt?

Für mich ist das Arbeiten entlang von Handlungskompetenzen ganz wesentlich. Dies wird unseren Jugendlichen in der Zukunft helfen. Warum? Weil sich die Welt und die Wirtschaft schnell verändern. Die Unternehmen müssen flexibel und in der Lage sein, sich innerhalb kürzester Zeit anzupassen. Sie brauchen daher Mitarbeitende, die sich anpassen und ihre Fähigkeiten gewinnbringend im Unternehmen einsetzen können. Wenn man jedoch nur lernt, bestimmte Aufgaben zu wiederholen, wie es zuvor der Fall war, kann man schnell überfordert sein: Es kann sein, dass sich eine Aufgabe innerhalb eines Monats vollständig ändert oder sogar verschwindet. Wenn also der Schwerpunkt zu sehr auf die «Aufgabe» gelegt wird, ist unser Mehrwert für das Unternehmen geringer. Indem wir den Jugendlichen beibringen, Kompetenzen zu entwickeln, können sie den Anforderungen des Unternehmens immer einen Schritt voraus sein, da es ihnen leichtfallen wird, die Aufgaben in unterschiedlichen Arbeitsumgebungen zu erledigen und sich an unsere sich ändernde Welt anzupassen. Dies ist umso wichtiger in einer Zeit, in der viel von künstlicher Intelligenz gesprochen wird …

Einer der wesentlichen Aspekte der Reform ist das selbstgesteuerte Lernen, das – wie wir bereits gesagt haben – die Rolle der Lehrkräfte verändert. Wie sieht das in der Praxis aus?

Der Ansatz ist von Grund auf ein anderer. Man sagt nicht mehr zu den Lernenden: «Du musst diese Aufgabe erledigen können. Ich zeige dir, wie es geht, dann wiederholst du das Ganze und kannst es.» Jetzt erklären wir den Lernenden, welche Kompetenzen sie entwickeln müssen und begleiten sie dabei. Die Lernenden entscheiden jedoch selbst, zu welchem Zeitpunkt sie welche Kompetenz erlernen und wie sie dabei vorgehen. Wir lassen den Lernenden also viel mehr Freiheit, sich die erforderlichen Kompetenzen anzueignen. Bei Coop haben wir praktische Übungen eingeführt, die den Praxisaufträgen der Reform entsprechen, anhand derer die Lernenden die einzelnen Kompetenzen entwickeln können. Die Lernenden müssen die Übung durchführen und erklären, wie gut sie mit der gestellten Aufgabe zurechtkommen und zeigen damit, wie sie sich die Kompetenz angeeignet haben. Anschliessend erhalten die Lernenden ein Feedback von ihren Vorgesetzten. Diese bewerten die erworbene Kompetenz anhand der erhaltenen Erklärungen oder verlangen, dass der eine oder andere Punkt noch einmal überarbeitet wird. Die Berufsbildner:innen sind daher nicht mehr in der Rolle der Wissensvermittler:innen, sondern Coaches, die den Lernenden beim Erwerb dieser sogenannten Handlungskompetenzen helfen, indem sie ihnen die Zielsetzung erläutern und regelmässig Feedback geben.

Besteht nicht die Gefahr, dass sich die Lernenden durch die erhöhte Selbständigkeit überfordert fühlen?

Selbstgesteuertes Lernen bedeutet nicht: «Du schaust selbst, wie du zurechtkommst.» Am Anfang müssen wir uns viel Zeit nehmen, um die Lernenden zu begleiten und ihnen zu erklären, was möglich ist und wie sie es angehen können. Es erfordert sogar eine gewisse Kontrolle, um sicherzustellen, dass die Lernenden ihre Aufträge richtig ausführen, dass sie verstehen, wie ,man sie ausführt, dass sie einen gewissen Arbeitsrhythmus entwickeln, dass sie regelmässig ihre Übungen abgeben, usw. Wenn sie schliesslich mit dieser Methodik vertraut sind, kann man ihnen etwas mehr Freiheit lassen. Und das ist dann der Moment, an dem sie Verantwortung für ihre Ausbildung übernehmen und selbständig werden.

Sie können vielleicht bereits den Erfolg dieser Methodik beurteilen, da die Lehre für Detailhandelsfachleute 2022 ebenfalls dahingehend reformiert wurde.

Es ist noch zu früh, um daraus Schlüsse zu ziehen. Wir müssen warten, bis der erste Jahrgang die Lehre abgeschlossen hat. Interessant wird sein, welche Ergebnisse bei den Prüfungen erzielt werden. Derzeit haben wir bei Coop eine Erfolgsrate von 99,2%. Wir werden im nächsten Frühling bei denjenigen, die ihr eidgenössisches Berufsattest (EBA) nach dem neuen System erhalten, sehen, ob sich diese Reform (positiv) auswirkt oder nicht. Wir werden auch mehr über das Kompetenzniveau wissen, welches die Lernenden am Ende ihrer Lehre erworben haben werden. Die Umfrage, die wir jedes Jahr bei unseren Berufsbildner:innen sowie Lernenden über die Qualität des Ausbildungssystems durchführen, stimmt uns weiterhin zuversichtlich: Das Feedback bei Coop Suisse Romande ist durchgängig sehr positiv und es wurden keine ernsthaften Schwierigkeiten bezüglich des neuen Ausbildungskonzepts gemeldet.

Sie sind also von dieser Reform überzeugt?

Ja, vollkommen. Ich denke, dass der Fokus auf die Handlungskompetenzen viel besser an die Arbeitswelt angepasst ist. Dank dieser Reform bleibt die Lehre für die Jugendlichen und Unternehmen modern und attraktiv. Letztere können nun davon ausgehen, dass sie mit der Einstellung von Lernenden nach Abschluss der Lehre über leistungsstarke und kompetente Berufsleute verfügen. Die neue Lehre lässt die Jugendlichen agil, proaktiv und selbständiger werden. Genau das erwarten die Unternehmen von ihren Mitarbeitenden.

Natürlich sind noch ein paar Kinderkrankheiten zu beheben, und es braucht etwas Zeit, bis alle Beteiligten in der Lernendenausbildung voll und ganz hinter diesem neuen Ansatz stehen. Aber die Reform geht definitiv in die richtige Richtung, denn sie wertet die Berufslehre auf, die in manchen Kantonen an Bedeutung verliert. Und sie gibt unseren Jugendlichen ein solides Rüstzeug für ihre Zukunft mit auf den Weg.

Erstmals veröffentlicht: 7.12.2023

Autor:in: Christine Theumann-Monnier

«Die Reform geht in die richtige Richtung, denn sie wertet die Berufslehre auf.»

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