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Tagebuchschreiben ist klärend und erfüllend. Wer regelmässig schreibt, lebt achtsam, stärkt das Reflexionsvermögen und tut etwas für die psychische Gesundheit.

Schreiben schärft die Wahrnehmung und bereichert das Leben. Wer Tagebuch schreibt, macht diese Erfahrung. Man taucht ins Schreiben ein, fokussiert und gewinnt Distanz zum Erlebten. Tagebuchschreiben mag aus der Mode gekommen sein. Und doch gibt es viele Menschen, die regelmässig schreiben.

Wie schreibt man eigentlich Tagebuch? Es gibt keine Regeln. Das macht es einfach und schwierig zugleich. Einfach, weil ich im Tagebuch schreiben kann, was und wie ich will. Schwierig, weil mich die Offenheit, die unzähligen Möglichkeiten allenfalls überfordern. Oder ich finde banal, was ich zu Papier bringe. Aufschreiben, was man erlebt: Was soll das bringen?

Menschen hatten schon immer das Bedürfnis, Erlebtes und Gedanken festzuhalten. Davon zeugen Tausende von Tagebüchern. Schriftsteller tun es kunstvoll, das Tagebuch ist auch eine literarische Gattung.

Schreiben fasziniert, hält fest und bringt Überraschendes zutage. Ich weiss erst, was ich denke, wenn ich es formuliere. Ich entdecke, womit ich nicht gerechnet habe. Beim Schreiben geht es immer auch ums Erkunden und ums Verstehen. Ich konstruiere mir gleichsam mein Leben, indem ich es beschreibe. Ich gebe den Erfahrungen und Gedanken Gestalt. Was diffus in mir ist, findet Ausdruck. Das Leben zur Sprache bringen.

Ich schreibe seit vielen Jahren Tagebuch. Es sind keine Texte für die Öffentlichkeit, und gerade darin liegt der Zauber – eine Freiheit und etwas Beglückendes. Die Texte werden nicht verwertet, dienen keinem Zweck. Und doch bewirken sie vieles: Klarheit, Erkenntnis, Wohlbefinden. Das bestätigen die meisten Tagebuchschreiber:innen. Das Niederschreiben von Gedanken hat etwas Befreiendes und Therapeutisches. Und es bringt mich auf neue Ideen, denn Schreiben ist ein kreativer Akt. Wenn ich schreibe, kommt mein Denken in Gang. Neuronales Feuerwerk. Wenn es gut läuft: Flow.

«Ich schreibe seit vielen Jahren Tagebuch. Es sind keine Texte für die Öffentlichkeit, und gerade darin liegt der Zauber – eine Freiheit und etwas Beglückendes.»
Rolf Murbach

Eins sein mit dem, was man tut. Das ist wohl auch ein Grund, weshalb Menschen ihre Gedanken gerne zu Papier bringen. Sie sind in Verbindung mit sich, sofern sie alle Einfälle zulassen. Ich nehme die Welt, in der ich lebe und denke, schreibend wahr und vertraue mich meinem Text an. Heilend ist Schreiben, weil ich Unangenehmes und Komplexes notiere, weil ich mit Wörtern und Sätzen eine sprachliche Welt erschaffe und weil ich Bedrückendem das Schwere nehme. Wahrnehmungen und Gefühle werden zu Sprache. Das wiederum erlaubt mir, «es» gleichsam von aussen zu betrachten. Ich erfahre einen befreienden Perspektivenwechsel.

Schreiben ist ein Mittel des Denkens und braucht Mut. Nur wenn ich ehrlich bin, wenn ich niederschreibe, was ich denke und fühle, entfalten meine Texte Kraft. Man sollte sich dabei nicht überfordern und wissen: Ich bin viele. Es gibt nicht die Wahrheit oder Wirklichkeit. Was ich heute so schreibe, verfasse ich morgen ganz anders. Das Tagebuch dokumentiert Stimmungen und Veränderungen.

Damit sind wir beim Erzählen von Geschichten. Meine Tagebuchtexte haben sich im Verlaufe der Zeit verändert, sind freier, fiktiver geworden. Was ich erlebe, gestalte ich schreibend um: eine Fantasie, eine Skizze, eine Erzählung. Und ich erlebe ein hohes Mass an Autonomie. Das ist, was ich mit dem Satz «Schreiben bereichert das Leben» meine.

Kann man sich im Schreiben verlieren? Ich denke: nein. Schreiben gibt halt, weil ich mich meiner vergewissere: Ich schreibe, also bin ich.

Bleibt das Erinnern, auch das eine Form des Tagebuchschreibens. Ich halte Biografisches fest, ich erinnere mich an Vergangenes und erlebe es nochmals. Schönes gibt mir Kraft, Schwieriges Klarheit. Ich verstehe, was war und was es mir bedeutet.

«Schreiben ist ein Mittel des Denkens und braucht Mut. Nur wenn ich ehrlich bin, wenn ich niederschreibe, was ich denke und fühle, entfalten meine Texte Kraft.»
Rolf Murbach

Anleitung zum Tagebuchschreiben

  • Schreiben Sie regelmässig, zum Beispiel jeden Tag zwanzig Minuten. Rituale sind wichtig, weil sich dadurch Routine einstellt. Zudem fällt einem das Verfassen von Texten mit der Zeit leichter. Schreiben ist ein Handwerk. Man sollte es pflegen.
  • Worüber schreiben? Legen Sie einfach los, denken Sie nicht lange nach, sondern halten Sie fest, was Ihnen durch den Kopf geht. Egal, was es ist.
  • Schreiben Sie auf, was Sie sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. In der journalistischen Reportage heisst das: die Sinne bedienen. Schreiben ist eine Form von Achtsamkeit.
  • Bewerten Sie Ihre Texte während des Schreibens nicht. Es gibt keine banalen Texte. Selbstkritik führt zu Blockaden. Ihre Texte müssen keine Meisterstücke sein.
  • Reflexives Schreiben: Setzen Sie sich ein Thema und denken Sie schreibend darüber nach. Lassen Sie alle Gedanken zu, lassen Sie sich von Ihren Überlegungen überraschen. Das führt zu Erkenntnissen.
  • Experimentieren Sie mit Sprache. Schreiben sie blumig, nüchtern, ausufernd, prägnant. Und auch mal Nonsens. Probieren Sie es mit Gedichten und freuen Sie sich über das Entstandene. Im Beruf ist das Schreiben Pflicht, das Tagebuch ist die Kür.
  • Üben Sie sich in der Technik des Freewriting. Schreiben Sie während 15 Minuten einfach drauflos. Schreiben Sie relativ zügig, aber nicht gehetzt. Und blicken Sie nicht zurück. Vertrauen Sie sich Ihren Einfällen an und zögern Sie nie. Der erste Gedanke ist der richtige. Wichtig: Formales wie Grammatik, Syntax oder Orthografie spielen keine Rolle. Beim Freewriting können Sie sich ein Thema vornehmen oder einfach einen beliebigen ersten Satz formulieren und dann den Text schreiben.
  • Seien Sie mutig, ehrlich und verzichten Sie auf Selbstzensur. Nur wenn Ihre Texte ehrlich sind, fühlt sich das Schreiben wahrhaftig an. Bedenken Sie immer: Jeder Text ist eine Momentaufnahme, und Sie können ihn vernichten. Aber haben Sie keine Angst vor den eigenen Gedanken. Was Sie erleben und denken, dies erleben und denken auch andere.
  • Bedenken Sie: Das Tagebuch ist nur für Sie. Sie sollten sicher sein, dass niemand es liest. Nur so sind Sie frei im Schreiben. Am besten haben Sie Vertrauen, dass andere es nicht lesen.
  • Schreiben Sie von Hand (mit Füllfeder in ein schönes Buch) oder mit dem PC. Handgeschriebene Texte fühlen sich sinnlich an, mit dem PC sind Sie schneller.

Tipps für Fortgeschrittene

  • Spielen Sie mit Gedanken, Sätzen, Szenen. Verändern Sie schreibend das Erlebte. Was Sie aufnotieren, ist nicht zwingend, was Sie denken. Der Schriftsteller Max Frisch hat gesagt: Ich probiere Sätze an wie Kleider.
  • Schreiben Sie Erlebtes in der dritten Person. Geben Sie der Figur einen Namen. Lassen Sie die Figur einiges erleben. Der Perspektivenwechsel birgt viel Freiheit in sich.
  • Schreiben Sie in der Ich-Form und in der Vergangenheit. Das eigene Erleben ist Ausgangspunkt für Phantasie und Imagination. Das Ich sind nicht Sie, sondern ist eine (literarische) Figur – hat aber mit Ihnen zu tun. Lassen Sie sich überraschen.

Erstmals veröffentlicht: 11.3.2021
Aktualisiert: 8.4.2022

Autor

Zur Person

Rolf Murbach ist Journalist und Dozent. Er unterrichtet u.a. bei der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, an der OST - Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil und an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich. Bis Dezember 2021 war er als Redaktor für das nationale Mitgliedermagazin des Kaufmännischen Verbands «Context» und seine Fachpublikation «Weiterbildung Schweiz» zuständig. Mehr.

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