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«Indem man das Handicap egalisiert, haben alle die gleichen Voraussetzungen»

Islam Alijaj setzt sich als Politiker für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ein. Seine Haltung ist klar: Leistungen für Menschen mit Behinderungen seien keine Wohlfahrt – sie dienten lediglich dazu, deren Potenzial für die ganze Gesellschaft zu entfalten.

Inklusion in Bezug aufs Arbeitsleben bedeutet, dass weniger Menschen mit Unterstützungsbedarf in separaten Institutionen tätig sind und mehr im sogenannt Ersten Arbeitsmarkt. Wie weit sind wir diesbezüglich in der Schweiz?

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention konzentriert sich zurzeit primär aufs Wohnen und auf die Freizeit. In den Bereichen Politik und Arbeit hinken wir hinterher.

Was fehlt in diesen Bereichen?

Die nötigen rechtlichen Rahmenbedingungen, damit Menschen mit Behinderungen ihre Arbeit richtig ausführen können. Ich persönlich musste nach meiner Wahl in den Zürcher Gemeinderat sechs Monate kämpfen, um meine Assistenz finanziert zu bekommen. Diese benötige ich für administrative Belange, da ich mit meiner Cerebralparese beispielsweise langsamer tippe. Das ist also mein Unterstützungsbedarf, damit ich den mir erteilten Volksauftrag erfüllen kann. In der Wirtschaft verhält es sich ähnlich.

Welchen Wert hat eine solche Assistenz für Menschen mit Behinderungen im Arbeitsleben?

Damit kann man Menschen mit Behinderungen mit Menschen ohne Behinderungen gleichstellen. Indem man das Handicap durch die Assistenzleistung egalisiert, haben alle die gleichen Voraussetzungen. Jemand, der vorher stark mit seinem Handicap beschäftigt war, kann sich durch die Assistenz vollumgänglich seinen Fähigkeiten widmen.

Wie sieht denn die Lage andernorts aus? Ist man im Ausland schon weiter?

In Skandinavien sieht es ganz anders aus, in Schweden gibt es gar keine Heime mehr. Man hat dort auch gemerkt, dass es viel günstiger ist, auf Assistenzen zu setzen. England hat einen Fonds für aktive Politiker mit Behinderungen. Daraus werden dann die nötigen Unterstützungsleistungen bezahlt. Aber auch im Ausland hat man das volle Potenzial noch nicht erkannt. Beim Wohnen ist es naheliegender – man sieht ein, dass jemand etwa beim Essen machen helfen soll. Bei der Arbeit sieht es anders aus, da hat man schnell Angst, für den gleichen Job zwei Leute zu bezahlen. Hier liegt meiner Meinung nach der Fehlgedanke, denn die Kompetenzen habe ja ich als behinderte Person. Und dafür werde ich vom Arbeitgeber bezahlt. Meine Unterstützungsleistungen sollte die IV anstelle einer Rente bezahlen. Könnte man die Intelligenz, die oftmals in behinderten Körpern steckt, freisetzen, könnten wir damit unter anderem dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Gerade im kaufmännischen Bereich ist das Potenzial enorm.

«Könnte man die Intelligenz, die oftmals in behinderten Körpern steckt, freisetzen, könnten wir damit unter anderem dem Fachkräftemangel entgegenwirken.»
Islam Alijaj wie der Fachkräftemangel bekämpft werden könnte:

Könnte man dieses Prinzip denn auch auf geistige Behinderungen anwenden?

Dort spricht man oft von Tandems oder Coachings, die bei der Lösungsfindung unterstützen. Da ich nicht geistig behindert bin, kann ich mich nicht in diese Situation versetzen und möchte auch nicht Anspruch erheben, zu wissen, was für die Betroffenen gut ist. Meine Aufgabe als Politiker sehe ich aber darin, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sie selber Lösungen erarbeiten können. Man muss sich dabei verabschieden vom Gedanken, dass es für alle eine Universallösung gibt. Wir sind kein Einheitsbrei.

Wenn die Rahmenbedingungen individuelle Lösungen ermöglichten, würde dies das Feld noch viel weiter öffnen. Auch Menschen mit psychischen Störungen könnten dann vielleicht wieder besser integriert werden.

Absolut. Unsere Gesellschaft ist heute auf Leistung getrimmt. Aber je schneller sich unsere Welt bewegt, desto mehr Leute fallen aus dem Rahmen. Für mich ist das eine Spirale nach unten, bis wir Vollgas in die Wand fahren. Ich bin der Überzeugung: Wir Menschen mit Behinderungen sind eine Chance für die Gesellschaft. Wenn man uns wieder integriert, verlangsamt sich alles auf ein gesundes Mass. Jeder Mensch kann einen Mehrwert bieten.  Und dann braucht es vielleicht auch wieder weniger Kliniken, die mit Entschleunigung ihr Geld verdienen.

Welchen Einfluss hat die fortschreitende Digitalisierung auf die Inklusion im Arbeitsmarkt?

Per se ist die Digitalisierung eine riesige Chance für eine inklusive Gesellschaft. Sie vereinfacht Arbeitsprozesse und schafft auch sonst super Möglichkeiten. Der Run auf Algorithmen und der milliardenschwere Werbemarkt überschatten das aber für mich. Die ganze Energie, die in der Digitalisierung steckt, könnte man auch für die Potenzialentfaltung von Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen verwenden.

Sie haben eine Cerebralparese. Welche Erfahrungen haben Sie persönlich im Arbeitsalltag gemacht?

Ich habe eine KV-Lehre in einer Stiftung gemacht, die nur behinderte Leute beschäftigte. Die Schule besuchte ich im normalen KV. Nach der Lehre wollte mein Lehrbetrieb mich behalten. Das ging nur, wenn ich eine IV-Rente bekomme. Ich wollte aber eigentlich weiterkommen, die Berufsmatura machen und studieren. Ich merkte, wenn ich jetzt hier in dem geschützten Rahmen bleibe, komme ich nicht mehr raus.

Ein Fehler im System?

Über diese Fehlanreize im Zweiten Arbeitsmarkt spricht man selten. Ich war eine produktive Arbeitskraft, die wenig kostete. Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich 40 Jahre lang für eine IV-Rente plus ein Taschengeld gearbeitet. Eine Altersvorsorge, wie sie derzeit in aller Munde ist, ist im Zweiten Arbeitsmarkt gar nicht vorgesehen. Die IV-Rente wird einfach durch eine AHV-Rente ersetzt und die Pensionierten leben dann auf dem Existenzminimum. Das System im Behindertenwesen ist falsch konstruiert: Wenn man zu viel Lohn bekommt, verliert man die IV-Rente. Und wenn man die IV-Rente verliert, hat man keinen Anspruch mehr auf einen geschützten Arbeitsplatz. Deswegen bringt es meiner Ansicht nach wenig, bei den Arbeitgebern anzusetzen – zuerst muss das System auf gesunde Beine gestellt werden.

«Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich 40 Jahre lang für eine IV-Rente plus ein Taschengeld gearbeitet.»
Islam Alijaj über seine finanzielle Perspektive auf dem zweiten Arbeitsmarkt:

Wie ging es nachher bei Ihnen weiter?

Mein Werdegang hat mich politisiert. Studieren konnte ich nicht, aber ich machte Weiterbildungen in Webentwicklung. Nebenbei informierte ich mich im Selbststudium übers Behindertenwesen und wurde später in den Zürcher Gemeinderat gewählt. Mit einer Inklusionsinitiative möchte ich zurzeit die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Verfassung festhalten sowie die personelle und technische Assistenz als primäre Lösung für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen etablieren.

Wie ist der Stand dieser Initiative?

Wir sind zusammen mit einem auf Behindertenrecht spezialisierten Professor an der Finalisierung des Initiativtextes und starten voraussichtlich im April mit der Unterschriftensammlung. Parallel gleisen wir gemeinsam mit Behindertenorganisationen die Kampagne auf.

Warum ist es so wichtig, dass sich insbesondere in Bezug auf Arbeit mehr bewegt?

Inklusion im Bereich Arbeit ist ein Gamechanger. Auch die Gleichstellung bei Mann und Frau hat erst richtig Fahrt aufgenommen, als Frauen ihr eigenes Geld verdienen konnten. Das befähigt zu eigenen Entscheidungen und verringert Abhängigkeiten.

Das Thema Diversity handelt oft von Geschlechtern, manchmal auch von Alter oder Herkunft. Würden Sie sich wünschen, dass Diversität auch in Bezug auf Behinderungen stärker gelebt wird?

Sicher. Wir werden immer vergessen. Anfangs dachte ich: «Cool, Diversität wird ein grosses Thema, da gehören wir Menschen mit Behinderungen dazu!» Aber Diversität wird meist auf Herkunft, Geschlecht und Alter reduziert. Die sexuelle Orientierung ist immer mehr am Kommen, Behinderung ist nach wie vor ein Tabu. Obwohl Behinderung eines der wichtigsten Merkmale ist – jeder Mensch hat eine kleinere oder eine grössere Behinderung.

Wir haben jetzt viel von Politik gesprochen. Gibt es auch Punkte, bei denen die Firmen selbst ansetzen können?

Die UBS hat ein Netzwerk aus behinderten Mitarbeitenden geschaffen, die eine behinderte Person präsidiert. Solche Sachen finde ich super. Man kann sich austauschen, Sensibilisierungsarbeit leisten, miteinander Lösungen suchen. Ähnlich wie beim Greenwashing machen manche Grossfirmen aber auch Alibiübungen – das finde ich schade.  Ich wünsche den Unternehmen, dass sie den Mut aufbringen, neue Wege einzuschlagen. Es geht nicht um Wohlfahrt, sondern darum, wie Mitarbeitende mit Behinderungen ihren Anteil zur Zielerreichung einer Firma beitragen können.

Erstmals veröffentlicht am: 4.11.2022

Autor:in Rahel Lüönd

«Inklusion im Bereich Arbeit ist ein Gamechanger.»
Islam Alijaj über die Bedeutung von Inklusion:

Zur Person

  1. Islam Alijaj, 36, lebt seit Geburt mit einer Cerebralparese. Seine Geh- und Sprechfähigkeiten sind beeinträchtigt. Er arbeitet als Projektleiter und ist Handicap-Lobbyist. Islam Alijaj wohnt in Zürich und ist Mitglied des Gemeinderats Zürich. Dabei setzt er sich für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ein.

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