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Liebe Gegenwart, dieses Jahr werde ich dir viermal einen Brief aus der Zukunft schicken. Wir schreiben das Jahr 2047. Im November werde ich 65. Im Jahr 2022 hiess dies, in Pension zu gehen. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Auch im hohen Alter gehen wir noch einer Tätigkeit nach – mit Freude und mit der Mission, etwas Wirkungsvolles zu tun.

[Post aus der Zukunft von Dr. Joël Luc Cachelin]

2022 hatten eure Frauen eine Lebenserwartung von 85, bei den Männern waren es vier Jahre weniger. Es waren damals gut fünfzehn Jahre mehr als im Jahr, in dem einst die AHV gegründet worden war. Bei ihrer Geburt durften Männer 1948 hoffen, 66 zu werden, die Frauen 71. Heute im Jahr 2047 sind nochmals fünfzehn Lebensjahre dazu gekommen. Unsere Frauen geniessen nun bereits eine Lebenserwartung von über 100. Klar lassen sich noch einige meiner Bekannten mit 65 pensionieren. Aber sie sind längst in der Minderheit. Die meisten von uns verspüren grosse Lust, in ihrem zweiten oder dritten Beruf bis 90 weiterzuarbeiten. Ihr Arbeitsleben raubte ihnen nicht mehr so viel Energie und Kreativität, wie das vor 25 Jahren noch der Fall war. Sie arbeiten zwar nicht wie andere in einer Vier-Tage-Woche, aber zwei Tage pro Woche sind viele von uns Ü60er schon noch unterwegs.

Es dauerte Jahrzehnte, bis die Unternehmen so handelten, als wären gute Ideen ihr wichtigster Rohstoff. Noch schwerer taten sie sich mit der Einsicht, dass Mitarbeitende durch die höhere Lebenserwartung während siebzig Jahren diese Ideen entwickeln. Plötzlich dauerten berufliche Biografien nicht mehr 45, sondern 70 Jahre oder noch länger. Schon in den 2020er-Jahren waren die entsprechenden Managementansätze, um Unternehmen zu inspirierenden Arbeitgeber:innen zu machen, längst bekannt – Aber sie waren eben nicht flächendeckend umgesetzt. Erst als die Generation Y die Verwaltungsräte eroberte, begann man die Förderinstrumente für mehr Kreativität konsequent durchzusetzen. In kaum einem Grossunternehmen haben die Angestellten heute keine frei gestaltbaren Lerntage. Führungskräfte, denen es gelingt, sich überflüssig zu machen, erhalten grosszügige Prämien.

Neuer Innovationsdiskurs

Im Rückblick sind die späten 2020er Jahre noch aus einem anderen Grund ein Wendepunkt im Management. Es war eine Zeit, als viele Themen und Moden der digitalen Transformation an ihr Ende kamen und Platz für einen neuen Innovationsdiskurs machten. Technologie- und Hardware-Fetisch wichen. Unternehmen begannen ihr Innovationsstreben dem globalen Ziel des reduzierten C02-Ausstosses unterzuordnen. Mit der grünen Transformation ging der Wunsch einher, die Lebensbedingungen von Nutztieren zu verbessern und nur noch auf nachhaltige Energie und nachwachsende Rohstoffe zu setzen. Statt über Smarte Brillen und Blockchain sprach man plötzlich über Veganismus und Geoengineering, darüber wie man mit Konsum- und Datenmodellen den Klimawandel lindern kann.

Nicht allen Digitalisierungsfachleuten und nicht allen Manager:innen gelang es rechtzeitig, die Zeichen der Zeit zu lesen. Und ganz ähnlich, wie die digitale Transformation die Leute anfangs vor den Kopf stiess, litten viele meiner damaligen Mitmenschen zu Beginn der grünen Transformation unter Verlustängsten. Sie hatten Angst, dass die schweizerische Kultur verschwindet. Sie fürchteten sich vor entkräfteten Körpern infolge einer veganen Ernährung und vor einem Staat, der sie erziehen würde, wie sie zu essen, zu konsumieren und sich zu vermehren haben. Es gab augenfällige Parallelen zur Digitalisierung. Wieder rechneten Politiker:innen und Manager:innen mit vielen verlorenen Jobs und grossen Investitionen. Nur wenige sahen die Märkte, die heute die Wirtschaft prägen: Die vegane Ernährung, die Sonnenergie, die Wasseraufbereitung.

«Mit der grünen Transformation ging der Wunsch einher, die Lebensbedingungen von Nutztieren zu verbessern und nur noch auf nachhaltige Energie und nachwachsende Rohstoffe zu setzen.»
Dr. Joël Luc Cachelin über das Innovationsstreben:

Innovation hiess Dinge nicht mehr zu tun

In den letzten Jahren zeigte sich immer deutlicher, dass die grossen Veränderungen des 21. Jahrhunderts unser Zusammenleben betreffen. Das umschloss etwa die Frage, wie wir bauen (durch Recycling) oder wie wir wohnen (in Siedlungen mit einem hohen Anteil an geteilten Räumlichkeiten) sollten. Unternehmen verstanden, warum sie sich diesen Fragen stellen mussten, wenn sie relevant bleiben wollten. Gelang es ihnen nicht, ihre Wertschöpfung in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen, verloren ihre Produkte und Dienstleistungen an Relevanz und verschlechtere sich ihre Position auf dem Arbeitsmarkt. Niemand hat heute mehr Lust für ein wirkungsloses Unternehmen zu arbeiten.

Für Unternehmen hiess dies Platz zu machen, damit sich ihre Mitarbeitenden öfters den grossen Fragen stellen konnten. Warum will das Unternehmen innovieren? Wie stellt man sich das gelungene Zusammenleben vor? Die nachhaltige Stadtentwicklung? Was rechtfertigt es, nicht allen Mitarbeitenden denselben Lohn zu zahlen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, mussten sie aufräumen, ausmisten, reduzieren. Statt zwei Kongressen organisierten sie einen. Viele bürokratische Grossunternehmen folgten der 150 Regel, wonach maximal 150 Mitarbeitende fest angestellt sein dürfen. Innovation hiess, Dinge nicht mehr zu tun. Das begriffen auch die visionären Manager:innen der 2020er Jahre, welche die Routinen der Industrialisierung endgültig abschafften. Sie strichen die wiederkehrenden Sitzungen, die Quartalszahlen, die CC-eMails und das Arbeitszeugnis. Sie erkannten, dass ihre Mitarbeitenden nur dann neue Ideen entwickeln und zur Marktreife bringen können, wenn sie genug Freiheiten geniessen.

Sie verstanden, warum man Mitarbeitenden vertrauen muss, sollen diese ihre Potenziale entfalten. Sie verstanden, warum nur eine diverse Belegschaft verschiedene Chancen und Risiken der Zukunft abdecken kann, vor allem die überraschenden. Führungskräfte mit alten Idealen des Wirtschaftens und Organisieren kamen unter Druck. Um sie zu stärken, setzten Arbeitgeber ab den 2020er Jahren deshalb auf Change-Programme, in denen sich die Führungskräfte, ihren Unsicherheiten und Ängsten stellen mussten. Sie sollten erfahren, was sie ganz persönlich für sinnvoll fanden. Sie kuschelten mit Kühen, stellten sich dem kontrollierten LSD-Rausch, gingen mit Führungskräften aus anderen Unternehmen kuren und stellten sich an mehrtägigen Maskenbällen die sinnerfüllte Arbeit im Jahr 2047 vor.

Erstmals veröffentlicht am: 24.3.2022
Letzte Aktualisierung: 27.11.2024

Autor:in: Dr. Joël Luc Cachelin

«Gelang es Unternehmen nicht, ihre Wertschöpfung in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen, verloren ihre Produkte und Dienstleistungen an Relevanz und verschlechtere sich ihre Position auf dem Arbeitsmarkt.»
Dr. Joël Luc Cachelin über die Wertschöpfung im Betrieb:

Zur Person

  1. Dr. Joël Luc Cachelin (1981) ist ein Schweizer Futurist. Vor dreizehn Jahren gründete er die Wissensfabrik, um Unternehmen in Zukunftsfragen zu inspirieren, zu begleiten und zu beraten. Sein Wissen bringt er in Expertengremien ein, darunter in die Beiräte des Besuchszentrums der Schweizerischen Nationalbank und Swissmedic 4.0 sowie in die Expertenkommission zum Grundversorgungsauftrag der Post. Grundlage seiner Arbeit bildet ein Wirtschaftsstudium an der Universität St.Gallen. 2021 schloss er sein Zweitstudium mit einem Master in Geschichte an der Universität Luzern ab.

    Im Zentrum seiner Arbeit steht das Interesse für Veränderungen. Dabei beobachtet er einerseits wie die verschiedenen Transformationsprozesse unsere Vorstellungen von Zukunft, Innovation und Fortschritt prägen. Anderseits erkundet er, welche alten Zukünfte der Vergangenheit wieder relevant werden könnten. In seinen Zeitreisen hält er sich zwischen den Jahren 1850 und 2050 auf.

  2. Die Wissensfarbik ist ein Thinktank für die digitale Gesellschaft. Sie bietet Studien, Vorträge, Beratung und die Entwicklung von Managementinstrumenten an. In der Wissensfabrik entstehen Bücher. Zuletzt: «Antikörper - Innovation neu denken» (Stämpfli, 2021).

Eine Kolumne aus der Zukunft

Im Auftrag des Kaufmännischen Verbands Schweiz hat sich der Schweizer Futurist und Gründer der Wissensfabrik Dr. Joël Luc Cachelin mit unseren Fokus-Themen Sinn-Ökonomie, Gesundheit, Future Skills und Gleichstellung auseinandergesetzt. Um die Trends aus dem Hier und Jetzt besser zu verstehen, wagt er eine Expedition ins Jahr 2047 und bricht unsere traditionellen Denkmuster auf. Die Kolumne [Post aus der Zukunft] wurde viermal im Laufe von 2022 publiziert und im Jahr 2025 weitergeführt. 

Für den Kaufmännischen Verband Schweiz steht fest: Egal was die Zukunft bringt, wir stehen unseren Mitgliedern sowie Arbeitnehmer:innen im kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Bereich und im Detailhandel tatkräftig zur Seite und begleiten sie durch die Zeitreise.

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