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Die Baustellenkauffrau
Tabea Fankhauser ist eine der wenigen Baustellenkauffrauen, die es in der Schweiz gibt: Die Arbeit auf der Baustelle erlebt sie als wertschätzend und spannend.
Im halbdunklen, kühlen Tunnel rauscht und tropft es von oben, irgendwo dröhnt eine Maschine und ohne Gummistiefel bekäme man nasse Schuhe. Routiniert setzt Tabea Fankhauser Fuss vor Fuss. Mit ihrer leuchtend orangefarbenen Kleidung und dem orangen Schutzhelm ist sie im Licht der Leuchtstoffröhren gut sichtbar. Die 24-Jährige geht etwa ein- bis zweimal pro Monat zu Fuss in den entstehenden Hochwasserentlastungsstollen. Bis sie ganz vorne bei der Tunnelbohrmaschine ist, legt sie inzwischen bereits rund einen Kilometer zurück. So weit hat sich die riesige Maschine in den letzten drei Monaten schon durch das Gestein gefressen. An der Decke transportiert das automatische Förderband den Aushub aus Kalk, Mergel und Schiefer fortlaufend nach draussen.
Tabea Fankhauser kennt jeden Meter der Baustelle des Hochwasserentlastungsstollens Ost im Sarneraatal bei Alpnach im Kanton Obwalden. Hier sieht sie ganz real, womit sie sich sonst nur auf dem Papier befasst: Die tonnenschweren Beton-Tübbinge zum Beispiel, mit denen die Sohle des Stollens ausgekleidet wird. Als Baustellensekretärin arbeitet sie einmal pro Woche vor Ort in ihrem Büro in den Baucontainern. Die Initiative dazu kam von ihr selbst, wie sie erklärt: «Nach zwei Jahren im Büro am Hauptsitz fand ich, es wäre spannender, direkt auf der Baustelle zu arbeiten und sprach meine Vorgesetzten darauf an.»
Mit der Branche war sie damals schon vertraut, nur eben ausschliesslich vom Schreibtisch aus. Ihre Lehre hatte sie allerdings auf einem ganz anderen Gebiet absolviert: Bei einer Firma, die Geräte für die Datenübertragung herstellte. Nach dem Lehrabschluss wechselte sie zur Firma Marti Tunnel AG in Moosseedorf im Kanton Bern. «Ich hatte Glück, dass ich gleich nach der Ausbildung mit noch nicht so viel Berufserfahrung diese Chance erhielt», blickt sie zurück. Heute schätzt sie, dass sie am Abend sieht, was sie den Tag über gemacht hat. «Jeder Tag ist ein Fortschritt».
«Nach zwei Jahren im Büro am Hauptsitz fand ich, es wäre spannender, direkt auf der Baustelle zu arbeiten und sprach meine Vorgesetzten darauf an.»Tabea Fankhauser
Ihre Arbeit ist vielseitig: Sie schreibt und kontrolliert Rechnungen, zum Beispiel für Baumaterialien und erledigt die ganze Personaladministration mit den Stundenabschlüssen. Sie ist Ansprechperson bei den kleinen und grossen Fragen der rund 40 festangestellten und temporären Mitarbeiter – etwa zu Kinderzulagen oder Krankenkasse –und organisiert für sie Kurse und Unterkünfte. Viele der Tunnelarbeiter, die oft aus Portugal stammen, wohnen für die Dauer des Baustellenprojekts in Unterkünften in der umliegenden Region.
Früher Start in den Tag
Zu Tabea Fankhausers Aufgaben gehört es auch, Bauführer und Baustellenleiter sowie die Mitarbeiter administrativ zu unterstützen, Anlässe zu buchen oder Reisen zu organisieren. Die meiste Zeit arbeitet sie vom Hauptsitz der Baufirma in Moosseedorf aus, wo sich das zentrale Sekretariat, die Personalabteilung, die Buchhaltung und die Geschäftsleitung befinden. An einem Tag in der Woche, am Donnerstag, fährt sie frühmorgens von Bern in die Innerschweiz. Es fällt ihr nicht immer gleich leicht, um fünf Uhr morgens aufzustehen, um nicht in den Berufsverkehr zu geraten. «Aber ich komme immer gerne hierher», sagt sie.
Nachdem sie am Morgen – meist als letzte ihrer Kollegen – eingetroffen ist, tauscht sie sich mit ihnen zuerst darüber aus, was in den letzten Tagen alles gelaufen ist. Dann kontrolliert sie die eingegangenen Rechnungen und vergleicht sie mit den Lieferscheinen, damit sie im Zahlungslauf weiterkommen. Ihr kleines Büro befindet sich in einem Baucontainer, der auf einen anderen gestapelt worden ist. Vor der kleinen Aussentreppe befindet sich eine einfache Schuhputzanlage, um den gröbsten Schmutz von den Büros fernzuhalten.
«Ich hatte Glück, dass ich gleich nach der Ausbildung mit noch nicht so viel Berufserfahrung diese Chance erhielt.»Tabea Fankhauser
So erstaunt es nicht, dass Tabea Fankhauser an ihrem Baustellen-Donnerstag eher praktische Kleider wählt. Das stört sie aber nicht, denn sie hat auch in der Freizeit keine Angst, sich schmutzig zu machen. Sowieso trägt sie bei den Besuchen unter Tag ein Ganzkörper-Kombi, den sie danach einfach abstreifen kann. Gleich beim Eingang kommt Tabea Fankhauser an der einzigen Frau vorbei, die sich ausser ihr im Tunnel befindet: Der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Mineure und Bauarbeiter, die in einer beleuchteten Nische über die Arbeiter der Baustelle wacht. Bis heute wird eine solche Statue auf vielen Tunnelbaustellen verehrt und mancherorts als einzige Frau auf der Baustelle geduldet.
Baukaufleute sind rar
Die Baustellenwelt ist ungewöhnlich, und Tabea Fankhauser ist es bewusst, dass sie mit ihrer Stelle ein «Los gezogen» hat. Denn für Baustellenkaufleute oder -sekretärinnen gibt es nur wenig Jobangebote. Bei kleineren Baustellen ist eine Sekretärin oft nicht nötig, weil die Logistik vom Mutterhaus aus organisiert wird. Und von den Grossbaustellen, bei der Baukaufleute die ganze Woche vor Ort sein müssen, gibt es nicht viele. Eine Tunnelbaustelle erfordert im Gegensatz zu einer Strassensanierung eine ständige Überwachung. Denn manchmal reagiert das Gelände anders als geplant.
«Angestrebt ist ein Vortrieb von 20 Metern pro Tag, aber wir sind noch nicht auf dem Level, weil die Geologie gerade etwas schwierig ist, das heisst zu hart», erklärt Tabea Fankhauser. Das Wasser drückt an den Wänden mehr durch als geplant, deshalb war es nötig, den Stollen stärker zu sichern, was eine Verzögerung des Baus zur Folge hatte. Die Tunnelbohrmaschine ist in zwei Schichten von 6.00 bis 23.00 Uhr in Betrieb und befördert insgesamt 550 000 Tonnen Gesteinsmaterial nach draussen. Mitte 2023 wird der 6,5 Kilometer lange Stollen zwischen dem Sarnersee und dem Wichelsee fertig sein, um die Wassermassen bei Unwettern abzuleiten und Hochwasser zu verhindern.
Tabea Fankhauser hat sich in den letzten Jahren nicht nur Branchenwissen angeeignet, sondern auch eine etwas dickere Haut zugelegt. «Schlagfertig muss man hier schon sein, sonst geht man unter», sagt sie selbstbewusst. Zu Beginn habe sie etwas Zeit gebraucht, um sich einzugewöhnen, räumt sie ein. Nur schon weil die Infrastruktur ganz am Anfang noch sehr einfach war. Es gab noch kein fliessendes Wasser und am Mittag nur Sandwiches. Auch wegen den schwankenden Temperaturen – Winter ist es kalt und im Sommer heiss – ist es von Vorteil, anpassungsfähig zu sein. Es habe schon Kolleginnen gegeben, die bereits in der Probezeit feststellten, dass die Baustelle nichts für sie ist.
«Schlagfertig muss man hier schon sein, sonst geht man unter.»Tabea Fankhauser
Sich Respekt verschaffen
«Auch der Umgang ist etwas härter als in anderen Branchen, aber man weiss immer woran man ist», betont die junge Frau. Hatte sie mit Vorurteilen zu kämpfen? Anfangs hörte sie ab und zu einen dummen Spruch von den Bürokollegen. «Das hatte vielleicht auch mit meinem Alter zu tun, da ich frisch von der Lehre kam», sagt sie. Sie habe sich zu Beginn ein wenig durchboxen und erst Respekt verschaffen müssen. Als Frau sei es in der Männerwelt der Baustelle sicher nicht ganz einfach, aber: «Wenn man einmal bewiesen hat, dass man zuverlässig arbeitet, ist es sowieso kein Problem mehr.»
Ganz im Gegenteil bekommt sie immer wieder zu spüren, dass es im Team jeden braucht und ihre Arbeit sehr geschätzt wird. Eine spezifische Weiterbildung wie etwa den Lehrgang Baukaufleute hat Tabea Fankhauser nicht absolviert: «Ich denke nicht, dass man in einer Schule lernen kann, wie es auf einer Baustelle zu und hergeht.» Viel wichtiger sei es, vor Ort zu sehen, wie es läuft.
Ihr eigener Fokus liegt woanders: Im Herbst 2020 schliesst sie eine Weiterbildung zur Direktionsassistentin ab, auch mit dem Ziel, künftig noch mehr Aufgaben bei der Unterstützung der Geschäftsleitung am Hauptsitz zu übernehmen.
Veröffentlicht am: 01.06.2021
Aktualisiert: 17.01.2022
«Wenn man einmal bewiesen hat, dass man zuverlässig arbeitet, ist es sowieso kein Problem mehr.»Tabea Fankhauser